Paukenschlag durch VwGH – „Kettenverantwortung“ im Kennzeichnungsrecht

Verwaltungsstrafe LMIV Inverkehrbringen Kettenverantwortung Lebensmittelinformation

Artikel 8 LMIV

Eine praktisch überaus bedeutsame Frage ist, wer die Verantwortung für die gesetzeskonforme Lebensmittelkennzeichnung trägt: Der Hersteller oder (auch) der Händler? Die Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV) regelt diese Frage – in etwas diffuser Formulierung – in Artikel 8. Wir haben darüber berichtet (zB hier). Im Oktober 2020 hat der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) dazu eine Leitentscheidung gefällt.

Im Ausgangsfall wurde ein Händler bestraft, weil er ein nicht ordnungsgemäß gekennzeichnetes Lebensmittel in seinem oberösterreichischen Zentrallager zum Verkauf bereitgehalten hatte; am Lebensmittel war ein deutsches Unternehmen angegeben. Anhand dieses Sachverhalts hat der VwGH zur Verantwortlichkeit Folgendes klargestellt:

- Art 8 Abs 1 LMIV sieht eine primäre Verantwortung jenes Lebensmittelunternehmers vor, unter dessen Namen / Firma das Lebensmittel vermarktet wird („Vermarkter“). Das war im konkreten Fall das am Lebensmittel genannte (von der Behörde nicht verfolgte) deutsche Unternehmen.

- Art 8 Abs 3 LMIV verbietet „Lebensmittelunternehmern, deren Tätigkeiten die Informationen über Lebensmittel nicht beeinflussen“, (wie vor allem Händlern) die Abgabe von Lebensmitteln, von denen sie wissen oder wissen müssen, dass sie den Kennzeichnungsvorschriften nicht entsprechen. Diese Bestimmung war im Anlassfall nicht relevant, weil – rechtlich wichtige Nuancierung – der Händler das betreffende Lebensmittel nur „zum Verkauf bereithalten“, aber noch nicht „abgegeben“ hatte (nochmals hier).

- Allerdings sieht Art 8 Abs 5 LMIV nach Ansicht des VwGH eine umfassende Verantwortung jeder Vertriebsstufe und somit auch des Händlers für Fremdprodukte vor: „jeder Lebensmittelunternehmer in Österreich innerhalb der Vertriebskette … kann (verwaltungsstraf-)rechtlich für jede Übertretung, die an das Inverkehrbringen anknüpft oder einen formalen Verstoß gegen das LMSVG bzw. gegen eine auf dessen Grundlage ergangene Verordnung verwirklicht, in Anspruch genommen werden. Dies gilt selbst dann, wenn der Verstoß primär auf eine Sorgfaltspflichtverletzung eines Lebensmittelunternehmers einer vorgelagerten Vertriebsstufe zurückzuführen ist.“

Damit lehnt der VwGH im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung eine sogenannte „Stufenverantwortung“ – jede Vertriebsstufe haftet (nur) für gewisse, ihr zuzuschreibende Verstöße – ab. Vielmehr geht er von einer „Kettenverantwortung“ aus, wonach der Händler auch für – seiner Disposition an sich nicht unterliegende – Kennzeichnungsmängel bei Fremdmarken einstehen muss. Dies auch nicht nur bei der Abgabe wie im Zusammenhang mit Art 8 Abs 3 LMIV, sondern bei jeder Form des Inverkehrbringens, auch dem Zum-Verkauf-Bereithalten wie im Ausgangsfall.

Immerhin betont der VwGH ausdrücklich, dass die Verantwortung des Händlers (natürlich) dessen Verschulden voraussetzt. Hat der Händler daher ein wirksames Kontrollsystem zur Sicherstellung der Kennzeichnungs-Compliance eingerichtet, handelt er bei einem dennoch eintretenden Verstoß nicht sorgfaltswidrig und nicht strafbar. (Wobei in Vollzugspraxis und Rechtsprechung oft aus Unternehmenssicht überhöhte Anforderungen an solche Kontrollsysteme gestellt werden.)

Die Entscheidung bringt eine lange erwartete Klarstellung hinsichtlich der – ua in Rechtsabteilungen, Strafvollzugsbehörden und der juristischen Literatur diskutierten – Geltung von Stufen- oder Kettenverantwortung für die Lebensmittelkennzeichnung. Inhaltlich ist die Entscheidung aus unserer Sicht diskussionswürdig; etwa ist der Zweck der besonderen Händlerverantwortung gemäß Art 8 Abs 3 LMIV fraglich, wenn Händler nach Art 8 Abs 5 LMIV ohnedies umfassend verantwortlich sein sollen. Auch im Hinblick auf das konkrete Strafverfahren und den von der Behörde spezifisch definierten und verfolgten Vorwurf war die Entscheidung nicht unbedingt abzusehen. Aus derzeitiger Sicht bleibt abzuwarten, ob (wann) der EuGH Gelegenheit zur Auslegung von Art 8 LMIV bekommen und zu welchem Ergebnis er dabei gelangen wird.