Neben den zahlreichen Insolvenzverfahren, welche die österreichische Berichterstattung der letzten Monate (Stichworte: SIGNA; KIKA/Leiner; Fisker GmbH) geprägt haben, gibt es aus insolvenzrechtlicher Perspektive eine inländische Premiere:
Im Spätherbst 2024 leitete die Pierer Industrie AG ein sogenanntes „Europäisches Restrukturierungsverfahren“ („EU-ReV“) ein und hob dessen Rechtsgrundlage vom „toten“ zum „gelebten“ Recht. Doch was sind die Besonderheiten dieses Verfahrens und warum fand es bisher kaum Anklang? Ein kurzer Überblick:
Das EU-ReV ist in § 44 Restrukturierungsordnung („ReO“) geregelt. Die ReO beruht auf der Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz („RIRL“, RL 2019/1023/EU), doch ist für das EU-ReV kein Auslandsbezug notwendig. Inhaltlich unterscheidet sich das EU-ReV vom ordentlichen Restrukturierungsverfahren lediglich durch seine Öffentlichkeit, sodass die Bezeichnung „Öffentliches Restrukturierungsverfahren“ wohl passender gewesen wäre.
Doch der Reihe nach: Restrukturierungsverfahren werden auf Antrag eingeleitet. Dazu ist jeder Schuldner befugt, der ein Unternehmen betreibt, und zwar rechtsformunabhängig. Im Antrag ist die „wahrscheinliche Insolvenz“ (§ 6 Abs. 1 IO) darzulegen – ein unbestimmter Begriff, der in der Praxis zu Problemen führen kann. Diese liegt vor, wenn
Liegt hingegen bereits tatsächlich Zahlungsunfähigkeit vor, ist das Restrukturierungsverfahren ausgeschlossen. Überschuldung (§ 67 IO) wiederum schadet der Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens dann nicht, wenn das Unternehmen eine positive Fortbestehensprognose vorweisen kann. Für ein EU-ReV muss der Schuldner vor Einleitung des Verfahrens – dh in der Praxis zeitgleich mit dem Antrag auf Verfahrenseinleitung – beantragen, dass die Verfahrenseinleitung mit Edikt öffentlich bekannt gemacht wird. Zu finden ist die Bekanntmachung in der Rubrik „Europäisches Restrukturierungsverfahren“ der Ediktsdatei.
Eine weitere Besonderheit des EU-ReV ist die Möglichkeit des Schuldners, die Aufforderung der Gläubiger zur Forderungsanmeldung zu beantragen (§ 44 Abs. 4 ReO). Die rechtzeitige Forderungsanmeldung ist zwar Voraussetzung für die Teilnahme am Restrukturierungsverfahren, doch erstrecken sich die Wirkungen des Restrukturierungsplans auch auf sonstige Gläubiger, welche vom Schuldner konkret individualisiert angeführt wurden. Schließlich ermöglicht die Öffentlichkeit des Verfahrens eine weitere Erleichterung für den Schuldner: Er kann eine allgemeine Vollstreckungssperre, mit der eine weitgehende Insolvenzeröffnungs- sowie Vertragsauflösungssperre (§ 26 ReO) einhergeht und alle Gläubiger betrifft (und nicht nur bestimmte wie im „normalen“ Verfahren), bei Gericht beantragen.
Letztlich muss jedoch kritisch hinterfragt werden, warum es seit Inkrafttreten der ReO im Jahr 2021 mehrere Jahre dauerte, bis das EU-ReV erstmals zur Anwendung kommt. Ein möglicher Grund könnte in der negativen Konnotation des Begriffs „Restrukturierung“ liegen. Dieser wird häufig mit wirtschaftlichen Problemen, Missmanagement oder gescheiterten Geschäftsmodellen assoziiert. Aus rechtlicher Perspektive könnte der Umstand, dass die ReO keine Erleichterungen bei der Auflösung bzw Abänderung von Verträgen bietet, ein wesentlicher Nachteil zum Insolvenzverfahren sein.
Ein Mehrwert des EU-ReV könnte sich aber bei Holdinggesellschaften (wie der Pierer Industrie AG) zeigen, für die vor allem ein Schuldenschnitt bei einer breiteren Gläubigerschaft und nicht die Veränderung der Arbeitnehmerstruktur oder Neuausrichtung der Geschäftspartnerschaften ein letzter Rettungsring vor der Insolvenz sein kann.